"Ältere Personen kommen selten ohne triftigen Grund in die Notaufnahme"

Wie die meisten Spitalbereiche sieht sich auch die Notaufnahme mit einer steigenden Anzahl Patienten über 75 Jahren konfrontiert. Dr. med. Vincent Ribordy, Chefarzt Notfallmedizin HFR, erklärt die Herausforderungen dieser Entwicklung und das entsprechende Betreuungskonzept.

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Dr. med. Vincent Ribordy

Dr. med. Vincent Ribordy

Inwiefern sind die Notaufnahmen vom Phänomen der Bevölkerungsalterung betroffen? 

Zwar steigen die Patientenzahlen in der Notfallstation regelmässig, doch der Anteil der sehr betagten Patienten ist in den letzten zehn Jahren doppelt so schnell gewachsen. Heute machen die Patienten ab 75 Jahren 15 bis 20 Prozent der Fälle in den Notfallstationen des HFR aus. Diese Situation wird sich in Zukunft aufgrund der Alterung der Babyboomer und der vielen Einwanderer, die in den 1950er-Jahren in die Schweiz kamen, noch verstärken. 

Bereits seit einiger Zeit wurden spezielle Notaufnahmen für Kinder eingerichtet. Brauchen ältere Menschen ebenfalls ein solches Spezialangebot? 

Die Betreuung von betagten Patienten ist streng geregelt und wird seit den 2000er- Jahren in verschiedenen medizinischen und wissenschaftlichen Publikationen behandelt. Diese Konsensdokumente haben in Spitälern, insbesondere in der Akutgeriatrie, zahlreiche Entwicklungen ausgelöst. Es geht darum, Probleme auf mehrdimensionale Weise anzugehen und das klassische ärztliche Vorgehen durch die Betrachtung des sozialen Umfelds, des psychokognitiven Zustands und der Somatik des Patienten zu ergänzen. Für eine ältere Person kann ein gebrochenes Handgelenk den Verlust der Selbstständigkeit bedeuten, was eine ganze Reihe von Auswirkungen mit sich bringt. Für eine angemessene Versorgung muss dieser mehrdimensionale Ansatz bereits frühzeitig, das heisst ab der Aufnahme in der Notfallstation, umgesetzt werden. 

Leichter gesagt als getan ... 

Neben den üblichen Schwierigkeiten, mit denen die Notaufnahmen konfrontiert sind (Patientenandrang, Zeitdruck usw.), ist die Versorgung von älteren Menschen für die Pflegenden und die Abteilungsorganisation zweifellos mit besonderen Herausforderungen verbunden. Zum einen sind die altersbedingten Krankheitsbilder oftmals sehr komplex, zum anderen kann es aufgrund von kognitiven Problemen, Gedächtnisstörungen oder eine durch die Erkrankung verursachte Verwirrtheit schwierig sein, bestimmte Informationen zu erhalten. Beispiel: Ein Patient sagt, er habe keine Allergien und nehme keine Medikamente, aber ist das auch wirklich wahr? Es bestehen immer Zweifel. Ausserdem ist ein längerer Aufenthalt in der Notaufnahme mit möglichen Komplikationen verbunden. Für dieses Umfeld typische Faktoren wie Stress, Lärm und geschlossene Räume können bei älteren Menschen Angst auslösen. 

Welche Lösungen hat das Spital für diese Situation? 

Das HFR setzt seit 2016 das Konzept «Senior friendly» um, das aus einer Reihe von spezifischen Massnahmen für diese Patientenkategorie besteht. Ziel ist es, dass multimorbide Patienten (Anm. d. Red.: Patienten mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen) so rasch wie möglich in der entsprechenden Abteilung behandelt werden. Dazu müssen diese Risikopatienten bei ihrem Eintritt in der Notaufnahme rasch identifiziert werden. Dabei ist das Alter nur eines von vielen Kriterien: Viele 75-Jährige sind bei bester Gesundheit! Ältere Personen werden einer dringenderen Triagestufe als jüngeren Patienten mit ähnlichen Beschwerden, aber ohne multiple Erkrankungen, zugeteilt. Als weitere Massnahme werden ältere Patienten während der Wartezeit z. B. in einem Bett eingerichtet oder direkt in den Pflegebereich gebracht. Danach wird der Patient besonders aufmerksam betreut. Natürlich ist es am besten, wenn die Patienten von Angehörigen begleitet werden, aber wir achten darauf, dass sie etwas essen und auf die Toilette gehen können. Wir berücksichtigen allfällige Behinderungen und prüfen, ob der Patient seine Brille oder sein Hörgerät dabei hat. Als letzte Massnahme versuchen wir, durch eine möglichst frühe Hospitalisierung die Behandlung der betagten Person zu antizipieren. Die Aufgabe der Notaufnahme besteht also darin, die Schwere des Falls zu identifizieren und den Patienten anschliessend an die entsprechende Abteilung weiterzuleiten. 

Ist die Notaufnahme für ältere Menschen auch eine Art niederschwelliger Zugang zur medizinischen Versorgung? 

Ältere Personen kommen selten ohne triftigen Grund in die Notaufnahme. Die Statistiken zeigen: Bei betagten Patienten sind die Krankheitsbilder und Diagnosen schwerer als bei jüngeren Patienten der gleichen Triagestufe. Für diese Personen ist es ausserdem mit hohem Aufwand verbunden, in die Notaufnahme zu kommen. Das kann mit der persönlichen Einstellung zusammenhängen, aber auch mit der Angst, seinen Partner, das Haustier oder sein Zuhause zurückzulassen, und nicht zu wissen, ob man zurückkehrt. Auch die Toleranzschwelle für Schmerzen und den Verlust der Selbstständigkeit ist bei älteren Personen anders. Oftmals ist eine Situation tageoder wochenlang stabil, bevor sie sich plötzlich rapide verschlechtert. 

Nach 15 Monaten sind die Bauarbeiten für den brandneuen Empfangsbereich und den ambulanten Behandlungsbereich der Notaufnahme in Freiburg nun abgeschlossen. Eine gute Nachricht für betagte Patienten? 

Die neuen Räume, die anhand des klinischen Behandlungspfads eingerichtet wurden, sorgen für mehr Platz, optimierte Aufnahme-, Triage- und Behandlungsprozesse und eine freundliche Atmosphäre, was allen Patienten, egal welchen Alters, zugutekommt.

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