Integrative Pädiatrie: gegen den Strom und doch im Trend

Das Zentrum für integrative Pädiatrie feiert zehn Jahre Pionierarbeit. Sein Ziel ist seit der Gründung, Schul- und Komplementärmedizin am freiburger spital (HFR) zu verbinden. Was vor zehn Jahren als Versuch begann, ist heute fester Bestandteil des Angebots. Eltern und Kinder werden ganzheitlich behandelt und in die medizinische Behandlung einbezogen.
Alltag in der Abteilung Pädiatrie am HFR: Obwohl er mit einem hoch dosierten Asthma-Spray und Cortison behandelt wird, hat der 5-jährige Luc* immer noch Atemnot und braucht zusätzlichen Sauerstoff. Gegen eine weitere Dosiserhöhung sprechen erste Nebenwirkungen. Das Pflegeteam wendet einen Brustwickel mit Ingwer an. Die Atmung des Kindes wird ruhiger. Eine intensivere Therapie oder eine Verlegung auf die Intensivstation ist nicht nötig.
Die 12-jährige Mia* hat ein traumatisches Erlebnis durchgemacht und zeigt seither Anfälle, die vor allem durch emotionalen Stress ausgelöst werden. Es fällt ihr sehr schwer, über das Erlebte zu sprechen. Die Musiktherapie bietet ihr durch Musik, Tanz und Gesang eine Ausdrucksform, mit der sie sich von ihrer starken Anspannung befreien kann. Gleichzeitig stärkt sie auf diesem Weg schrittweise ihr Selbstwertgefühl. In der Folge kann eine psychotherapeutische Behandlung erfolgreich eingeleitet werden.
Kombinierte Therapieformen
Die integrative Pädiatrie am HFR macht Behandlungen von Kindern und Jugendlichen wie Luc und Mia schon seit zehn Jahren möglich. Der Begriff «integrativ» steht dabei für die Verbindung von schul- und komplementärmedizinischen Therapien auf Grundlage eines umfassenden Verständnisses von Gesundheit und Krankheit.
«Häufig schätzen die Eltern komplementärmedizinische Therapien, wie etwa äussere Anwendungen. Sie sind erstaunt und fühlen sich gestärkt, wenn sie diese als «Hausmittel» bekannten Anwendungen auch im Spital vorfinden», erzählt Romy Schneider, Pflegefachfrau mit Fachausbildung Neonatologie und Pflegeexpertin in anthroposophisch erweiterter Pflege, die seit der Gründung am Zentrum mitarbeitet. «Nach entsprechender Anleitung können sie die Therapien selber anwenden, und sie lernen, ihr Kind genauer zu beobachten und können es besser unterstützen.»
Zum Einsatz kommen komplementäre Arzneimittel, die von der Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic bewilligt werden. Das Zentrum für integrative Pädiatrie stellt sich zudem der Herausforderung, seine Therapien laufend wissenschaftlich zu evaluieren.
«Die integrative Pädiatrie erfordert Zeit», erklärt Romy Schneider. Es brauche Zeit für die Therapie, bei der manchmal auf schnelle Interventionen verzichtet und mehr Aufmerksamkeit auf die Selbstheilung gerichtet werde.
Es braucht aber auch Zeit, sich immer wieder mit dem Gedanken der integrativen Pädiatrie auseinanderzusetzen und sich mit den kleinen Patientinnen und Patienten und ihren Familien auszutauschen. Luc und Mia sind nicht allein, sie werden von ihren Eltern begleitet. Die Beziehung zwischen allen Beteiligten spielt eine wesentliche Rolle für den Erfolg einer Behandlung. Hier kommt es auch auf die innere Haltung an und nicht allein auf das Arzneimittel oder Therapieverfahren.
Alle Beteiligten bringen sich ein
Treibende Kraft hinter dem Zentrum für integrative Pädiatrie ist Chefarzt Prof. Dr. med. Johannes Wildhaber-Brooks. Heute wird das Zentrum von Dr. med. Benedikt Huber mitgeleitet, Stv. Chefarzt Pädiatrie am HFR. Der Kinderarzt und Neonatologe mit einer Zusatzqualifikation für anthroposophisch erweiterte Medizin (VAOAS) ist seit den Anfängen des Projekts dabei: «Wichtigster Faktor für den Erfolg war die gründliche Vorbereitung, bei der alle wichtigen Stellen mit einbezogen wurden, von der Spitalpharmazie über den Materialeinkauf bis zur Abrechnung.» Nach einer 18-monatigen Pilotphase wurde Bilanz gezogen: Die Zufriedenheit von Eltern und beteiligten Fachpersonen war gleichermassen hoch. Entgegen anfänglichen Befürchtungen arbeitete das Zentrum kostendeckend – der Ausbau konnte beginnen und dauert an.
Die Nachfrage ist ungebremst hoch. «Wir haben eine zukunftsfähige Vision, die sich von der aktuellen Entwicklung in der Medizin, die sich immer mehr spezialisiert und technisiert, abhebt. Wir versuchen, eine Gegenbewegung zu bilden», sagt Benedikt Huber dazu.
Das HFR ist noch immer die einzige Kinderklinik in der Schweiz, die integrativ arbeitet. Das Zentrum setzt darum auch auf die Aus- und Weiterbildung zukünftiger Kinderärztinnen und ‑ärzte und koordiniert das Netzwerk der Schweizer Pädiater mit Interesse an integrativer Pädiatrie (SIGIP). Für die Zukunft wünscht sich Benedikt Huber, noch weitere Kliniken anzuregen, sich auf die Vision der integrativen Pädiatrie einzulassen.
* Vornamen geändert.